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Die neue-Dimension der Medizin – page 144

Wir müssen uns dessen bewußt werden, wa diese neuartige Erkenntnis be
deutete. Bis dahin hatte als unum tößliche medizinische Wahrheit gegolten, daß
ein Patient, der an bestimmten Erkrankungssymptomen leidet. eine Gegen-Arznei
bekommen müsse, die seine Symptome eliminiere. Diese Regel galt als selbst-
verständlich, so daß sie mit geradezu schematischer Routine angewandt wurde.
Aufgrund eines persönlichen Experiments dämmerte es Hahnemann, was die
Substanzen tatsächlich bewirken: Ein Mittel verhilft zur Heilung und mithin zum
Verschwinden der Beschwerden nur, weil es ähnliche Zeichen und Symptome in
einem gesunden menschlichen Organismus hervorzurufen vermag.
Den meisten seiner ärztlichen Zeitgenossen wäre es kaum in den Sinn gekom-
men, tiefgründig über die Bedeutung dieser Beobachtung nachzudenken. Die
Mehrzahl hätte sie als zufällige Ausnahmeerscheinung abgetan.
Anders reagierte Hahnemann, der als echter Empiriker Tatsachen höher
bewertete als Theorien. Er anerkannte das dabei Erfahrene als Faktum der Natur,
sann mit gebotener Gründlichkeit über dessen Bedeutung nach und konnte zu
guter Letzt begreifen, daß er ein Naturgesetz wiederentdeckt hatte: Eine Substanz.
die beim gesunden Menschen bestimmte Zeichen und Symptome hervorruft, heilt
genau diese Zeichen und Symptome beim Kranken.
Weil Hahnemann zum Zeitpunkt seiner Entdeckung bereits als fähiger Wis-
senschaftler bekannt war, erfuhren davon Ärzte, die – wie er – nach Wegen aus dem
Dilemma suchten. Gleich Hahnemann begannen sie alsbald, die Wirkung von
Arzneistoffen in Selbstversuchen zu ermitteln.
Das Einnehmen der Substanz zum Sichtbarwerden der Symptome beim
gesunden Menschen nannte Hahnemann Arzneimittelprufung. Zwar kannte auch
die orthodoxe Medizin der Zeit um das Jahr 1800 Prüfungen, aber die wurden
nicht an Menschen, sondern an Tieren vorgenommen. Bis heute bezieht die
Universitätsmedizin ihre Arzneimittelkenntnis ja noch überwiegend aus ebenso
quälerischen wie therapeutisch sinnlosen Experimenten mit Tieren.
Vergeblich wandten sich in der Vergangenheit viele große Geister dagegen.
Treffsicher formulierte der amerikanische Arzt Ramond dei Mas die Abwegig-
keit solchermaßen gewonnener »Kenntnisse«:
»Wenn die Tiere, groß oder klein, doch nicht unsere Sprache sprechen und
keinen menschlichen Geist besitzen, wie soll da eine Katze, ein Hund, eine
Maus, ein Meerschweinchen, ein Kaninchen oder ein Esel unter dem Einfluß
einer Arznei die Vielzahl von Symptomen hervorbringen, die als Wirkung die-
ses Mittels beim Menschen aufkommen?
Wann lassen wir in der experimentellen Therapie endlich statt des Frosches
den Menschen sprechen? Gibt es bei all den Ärzten in der medizinischen Welt
nicht Verstand genug, um zu erkennen, daß wir physiologisch auf demselben
Boden arbeiten müssen, auf dem wir therapeutisch handeln sollen?«
Die von Hahnemann begonnenen ersten sinnvollen wissenschaftlichen Arznei-
mittelprüjungen – abgekürzt AMP – dauerten sechs Jahre. Jedes Zeichen, jedes